Die Wende im Leben, die Alles verändert

 

Viele spirituelle Sucher erkennen erst im Laufe ihres Lebens, dass sie berufen sind. Meist erfolgt irgendwann eine radikale Wende, die die absolute und bedingungslose Überantwortung an das Göttliche mit sich bringt. Als würde man ein neues Buchkapitel in eine völlig unbekannte Dimension aufschlagen, an das sich unsere Sinne erst gewöhnen müssen. Tatsächlich ist es das Tor in eine erweiterte Wahrnehmung, für die wir nun bereit sind. 

Wenn das geschieht, bedeutet es nichts anderes, als dass sich das Göttliche für uns entschieden hat. Lange Zeit erfuhren wir uns als aktiver Sucher, nicht gewahr, dass wir längst von IHM angezogen wurden, weil er uns seinen `Bannstrahl´ und seine Führung auferlegt hatte.  

Auch Sri Aurobindo erfuhr diesen Moment: Im Gefängnis von Alipur. Verhaftet als indischer Widerstandskämpfer gegen die englische Besatzung wurde ihm dort offenbart, welch weltumspannenden Aufgabe ihm wirklich zugedacht war.  

 

 

Sri Aurobindo: Die Stimme Gottes und die radikale Wende im Gefängnis


   "Als ich verhaftet und in Eile in das Gefängnis am Roten Markt geschafft wurde, da war mein Glaube für eine Weile erschüttert, denn in Gottes Herz und Absichten konnte ich nicht hineinschauen. Dort verzagte ich einen Augenblick und schrie in meinem Herzen zu Ihm hinaus: "Was geschieht mir da? Ich glaubte, dass ich eine Mission hätte, für mein Volk und mein Vaterland zu wirken, und dass ich Deinen Schutz haben würde, bis das Werk getan sein würde. Warum denn bin ich unter einer solchen Anklage hier?"

Ein Tag verging und ein zweiter und ein dritter, dann sprach von innen her eine Stimme zu mir: "Warte ab."

  Da wurde ich ruhig und wartete. Vom Roten Markt wurde ich nach Alipur gebracht, und für einen Monat kam ich getrennt von Menschen in Einzelhaft. Da wartete ich Tag und Nacht auf die Stimme Gottes in mir, um zu wissen, was Er mir sagen wollte, um zu erfahren, was ich zu tun hätte. In dieser Abgeschlossenheit erfuhr ich die erste Realisation, die erste Belehrung. Ich erinnerte mich, dass einen Monat oder mehr vor meiner Verhaftung mich ein Anruf getroffen hatte, alle äußere Aktivität aufzugeben, in die Abgeschiedenheit zu gehen und in mich selbst hineinzuschauen, so dass ich in eine engere Gemeinschaft mit Ihm zu treten vermöchte. Ich aber war schwach und konnte dem Ruf nicht entsprechen. Mein Werk war mir sehr teuer, und im Stolz meines Herzens dachte ich, dass das selbe leiden oder gar zusammenbrechen könnte, wenn ich nicht da sei, deswegen wollte ich es nicht lassen. Da sprach Er wiederum zu mir, so schien es mir, und sagte: "Die Ketten, die du zu zerbrechen keine Kraft hattest, habe ich für dich zerbrochen. Denn es ist nicht mein Wille, noch war es je meine Absicht, dass es so weitergehen sollte. Ich habe etwas anderes für dich zu tun, und dazu habe ich dich hierher gebracht, dich zu lehren, was du selbst nicht lernen wolltest, und um dich für mein Werk vorzubereiten."

  Dann legte er mir die Gita in meine Hände. Seine Kraft trat in mich ein, und ich war in der Lage, den religiösen Weg der Gita auszuschreiten. Nicht nur intellektuell zu verstehen, sondern zu realisieren hatte ich, was Sri Krishna von Arjuna verlangt und was er von allen verlangt, die sein Werk zu tun streben, nämlich frei zu sein von Abneigung oder Wunsch, das Werk für Ihn zu tun, ohne des Werkes Frucht zu fordern, den Selbstwillen aufzugeben und ein passives und gläubiges Instrument in Seinen Händen zu werden, ein gleiches Herz zu haben gegen hoch und niedrig, Freund und Feind, Erfolg oder Misserfolg, gleichwohl aber sein Werk nicht nachlässig zu tun. Ich begriff, was die Hindu-Religion überhaupt bedeutet. Ständig reden wir von der Hindu-Religion, der `ewigen Religion´,  wenige unter uns wissen aber wirklich, was Religion ist. Andere Religionen sind vorwiegend Religionen des Glaubens und des Bekenntnisses, aber die ewige Religion ist das Leben selbst. Sie ist eine Angelegen- heit, die nicht so sehr zu glauben als vielmehr zu leben ist. Das ist die Religion, die zum Heil der Menschheit in der Abgeschlossenheit dieser Peninsula seit alters wertgehalten worden ist. Diese Religion zu vermitteln, dazu erhebt sich Indien. Indien erhebt sich nicht, wie andere Länder es tun, um seiner selbst willen oder um die Schwachen niederzutreten, wenn es stark geworden ist. Indien erhebt sich, um das ewige Licht, das ihm anvertraut ist, über die Welt auszubreiten. Immer hat Indien für die Menschheit existiert und nicht nur für sich selbst und um der Menschheit willen, und nicht nur um seinetwillen muss es groß sein. Dies war darum das nächste, das Er mir zeigte. Er ließ mich die zentrale Wahrheit der Hindu-Religion begreifen.

 

 

Die großen Schauungen von Alipur

 

  Er wandte das Herz meiner Gefängniswärter mir zu, und sie sprachen zu dem Engländer, der dem Gefängnis vorstand: Er leidet an seiner Einzelhaft, lassen Sie ihn wenigstens für eine halbe Stunde morgens und abends außerhalb seiner Zelle spazieren gehen. Das wurde verfügt, und während ich mich erging, geschah es, dass Seine Kraft wiederum in mich eintrat. Ich blickte auf das Gefängnis, das mich von den Menschen abschloss, aber ich war nicht mehr durch seine hohen Mauern gefangen, nein, es war Vasudeva, der mich umgab. Ich ging unter den Zweigen des Baumes vor meiner Zelle auf und ab, aber es war nicht der Baum, ich wusste, es war Vasudeva, es war Sri Krishna, den ich dort stehen und seinen Schatten über mich breiten sah. Ich schaute auf die Eisenstäbe meiner Zelle, auf das Eisengitter, das als Tür diente, und wiederum sah ich Vasudeva. Es war Narayana, der mich bewachte und für mich Posten stand. Oder ich lag auf den rauhen Decken, die man mir als Bett gegeben hatte, und ich fühlte die Arme Sri Krishnas um mich, die Arme meines Freundes und Geliebten. Dies war die erste praktische Verwirklichung der tieferen Vision, die er mir gab. Ich blickte auf die Gefangenen im Gefängnis, auf die Diebe, die Mörder, die Schwindler, und wie ich sie ansah, da sah ich Vasudeva, es war Narayana, den ich in diesen verdunkelten Seelen und geschändeten Leibern sah.

  Als der Prozeß vor Gericht begann und wir vor den Richter gebracht wurden, folgte mir das gleiche innere Wissen. Er sagte zu mir: "Als du ins Gefängnis geworfen wurdest, verließ dich nicht dein Mut und schriest du nicht auf zu mir: `Wo ist nun Dein Schutz?´ Blicke jetzt auf den Richter, blicke jetzt auf den Ankläger." Ich blickte hin, und es war nicht der Richter, den ich sah, es war Vasudeva, es war Narayana, der dort auf der Bank saß. Ich blickte auf den Ankläger, und es war nicht der Ankläger, den ich sah, es war Sri Krishna, der dort saß, es war mein Geliebter und Freund, der dort saß und lächelte: "Nun, fürchtest du dich?" Er sagte: "Ich bin in allen Menschen und beherrsche alle ihre Handlungen und Worte. Mein Schutz ist immer noch mit dir, und du sollst dich nicht fürchten. Diese Anklage, die gegen dich gebracht worden ist, belasse ganz in meiner Hand. Sie ist nicht deine Sache. Nicht wegen dieses Prozesses habe ich dich hierher gebracht, sondern zu einem anderen Zweck. Die Anklage selbst ist mir nur ein Mittel für mein Werk und nichts weiter."

  Als dann die Verhandlungen des Prozesses begannen, fing ich an, für meinen Verteidiger viele Instruktionen zu schreiben, was in den Aussagen gegen mich falsch sei und in bezug auf welche Punkte die Zeugen ins Kreuzverhör genommen werden sollten. Dann geschah etwas, das ich nicht erwartet hatte. Die Anordnungen, die für meine Verteidigung getroffen waren, wurden plötzlich geändert, und ein anderer Verteidiger stand für mich da. Er kam unerwartet, ein Freund, aber ich wusste nicht, dass er kommen würde. Ihr habt alle den Namen des Mannes gehört, der alle anderen Gedanken aus seinem Sinn schlug und seine gesamte Praxis im Stich ließ, der Tag für Tag, Monate hindurch die halbe Nacht aufsaß und seine Gesundheit opferte, um mich zu retten, Srijut Cittaranjan Das. Als ich ihn sah, war ich zufrieden, immer noch hielt ich es aber für notwendig, ihm Instruktionen zu schreiben. Auch das alles wurde dann aus meiner Hand genommen, und ich hatte von innen her die Botschaft: "Dies ist der Mann, der dich von den Schlingen befreien wird, die um deine Füße gelegt sind. Packe jene Papiere weg, du bist es nicht, der ihm Anweisungen geben wird, ich werde ihn anweisen." Von da an sprach ich zu meinem Verteidiger nicht ein Wort über den Prozess, noch gab ich ihm eine einzige Instruktion, und wenn mir einmal eine Frage gestellt wurde, dann fand ich jedesmal, dass meine Antwort der Sache nicht half. Ich hatte alles ihm überlassen, und er nahm es ganz in seine Hände, mit welchem Ergebnis, wisst ihr.

  Während der ganzen Zeit wusste ich, was Er mit mir vorhatte, denn ich hörte es wieder und wieder, unablässig lauschte ich der Stimme von innen her: "Ich führe, darum fürchte nichts. Wende dich deinem eigenen Werk zu, um dessentwillen ich dich ins Gefängnis gebracht habe, und wenn du herauskommst, dann denke daran, nie dich zu fürchten, nie zu zaudern. Denke daran, dass ich es bin, der dies tut, nicht du oder irgendein anderer. Was für Wolken auch heraufziehen mögen, was für Gefahren, Leiden, Schwierigkeiten und Unmöglichkeiten sich dir auch entgegenstellen mögen, nichts ist unmöglich, nichts ist schwierig. Ich bin in der Nation und in ihrem Aufstehen, und ich bin Vasudeva, ich bin Narayana, und was ich will, soll sein, nicht was andere wollen. Was mir heraufzuführen gefällt, kann keine menschliche Macht aufhalten."

 

Sri Aurobindo wurde freigesprochen. Hier ein Foto kurz nach seiner Entlassung. Ist der Blick nicht ein vollkommen anderer als auf dem Verhaftungsfoto oben? 

Wendepunkt in meinem eigenen Leben

 

 

 

Diese Karte lag auf meinem Platz, als ich mich bei einem `therapeutischen Begrüßungskaffee´ einfand.

Niemand wusste, dass ich mich an diesen Platz setzen würde.

Ich klebte sie später in mein Tagebuch. 

Ich hatte fast 20 Jahre der spirituellen Suche hinter mir, als der endgültige Wendepunkt eintrat. Anfänglich war es ein blindes Umhertappen, das sich in einer bewussteren Lebensweise hinsichtlich Ernährung, Umfeld und einer veränderten Einstellung zur Medizin zeigte. Ich begann nahezu alles zu hinterfragen, was ich bis dahin als selbstverständlich dem menschlichen Leben zugehörig erachtet hatte. Die innere Ausrichtung verlagerte sich immer mehr auf die Themen Gnade, Gott und Evolution: Wo führte das alles hin? Was passierte mit mir?

Ich suchte Antworten durch regelmäßiges Meditieren und das förmliche Verschlingen der Literatur spiritueller Meister. Ich besuchte – viel zu teuere – `spirituelle´ und Selbsterfahrungs-Seminare. Der Lebensschwerpunkt verschob sich und absorbierte mich, ohne, dass ich etwas daran ändern konnte. Anfänglich erfuhr ich das als Stärkung und Bereicherung jeglichen Funktionierens im Alltag. Auch im Berufsleben. 

Vor knapp 20 Jahren wurden mir die ersten Gipfelerlebnisse bzw. Gotteserfahrungen geschenkt. Von dem Moment an begannen die bewusste Suche und die Läuterungsschübe. Unerklärliche körperliche Einbrüche folgten, die zunehmend die Psyche und meine Arbeit belasteten, weil ich sie nicht verstand. Diese körperlichen Veränderungen waren in der Literatur, die ich studierte, nirgendwo beschrieben worden.

 

Ich kämpfte mehrere Jahre mit dieser Doppelbelastung, die mich mehr und mehr erschöpfte und verzweifeln ließ. Dies und ein zusätzlicher Schicksalsschlag bescherten mir immer wieder den Gang zum Amtsarzt. Die erste Androhung der Verrentung versetzte mich in einen Schockzustand. Noch mehr die Besuche in diesem kalten Gebäude mit den grauen, schmutzigen Wänden, den langen dunklen Gängen und den Beamten selbst, die in ihrer Befragung mehr verurteilenden inquisitorischen Vollstreckern glichen, als Menschen. Und die einem das Gefühl vermittelten, man sei einer der minderwertigsten Zeitgenossen, der sich nur eine frühzeitige Verrentung ergaunern wolle.

Bei mir war das genau andersherum: Aufgeben hätte ich als Niederlage empfunden. Ich wollte mir und anderen beweisen, dass ich mich von den erlittenen Schicksalsschlägen nicht in die Knie zwingen lasse. Ich konnte nicht dem Bild der psychisch Kranken entsprechend, das sie, vor allem hinter meinem Rücken tuschelnd, aufgebaut und hineininterpretiert hatten. Weil es nicht stimmte. Aber die tiefere Wahrheit hätte mich noch mehr in die Außenseiterrolle rutschen lassen.

Zudem hatte ich durch die endgültige Verrentung viel zu verlieren. Ein Zurückstufen auf eine verminderte Arbeitsfähigkeit hatte mittlerweile noch mehr finanzielle Einbußen und Nöte mit sich gebracht. Also bäumte ich mich immer wieder auf und stemmte mich gegen die Zwangsverrentung.

 

Irgendwann rückte der letzte Termin näher. Er sollte die Frage der endgültigen Verrentung klären. Die verpflichtende Prozedur der psychiatrischen und psychologischen Untersuchungen und begleitenden Therapien war abgearbeitet, alle mit demselben Ergebnis: Vollkommen klares Bewusstsein, die Abwesenheit jeglicher Angst und eine stützende spirituelle Ausrichtung. Die deutlichste Aussage mir gegenüber bestätigte eine spirituelle Krise und ich dürfe mich nicht dagegen wehren, weil sich dadurch die Symptomatik verschlimmern würde.

Irgendwie war das alles nicht überraschend, aber zwischen wissen und danach handeln mit allen Konsequenzen, die das dann mit sich bringt, besteht ein himmelweiter Unterschied. Man meint lange, dass man es schafft, alle Bälle gleichzeitig in der Luft zu halten. 

Mit den Attesten diverser Therapeuten und Psychiater in der Hand wartete ich also auf den letzten Termin der amtsärztlichen Untersuchung. Zwei Wochen vor dem Termin erfasste mich plötzlich eine unerklärliche Welle der Zuversicht, die sich spontan und mühelos auf zwei Seiten DINA4 entlud: Die wirklich Ursache meiner körperlichen und psychischen Zusammenbrüche und wie das spirituelle Erwachen erfahren wurde.  Versehen mit Datum und Unterschrift, schön zum Abheften in irgendwelchen Akten. Danach kehrte eine bis dahin unbekannte Ruhe in mich ein. 

Bei dem folgenden Besuch in dem grauen Gemäuer kam ich mir einfach nur deplatziert vor. Ich beschloss, das Ganze als Notwendigkeit abzuspulen, es berührte mich nicht. Vor meinen Augen lief alles wie unwirklich ab. Bis zu dem Moment, als ich aufgerufen wurde, der Amtsarzt die Tür öffnete und ich in seine Augen schaute: „Das ist ein Mensch“, war mein erster Gedanke. Ich konnte ihm in die Augen schauen, sie hatten keine der üblichen unsichtbaren Barrieren, zehn Zentimeter vor dem Gesicht. Und `jemand´ schaute heraus und mich an, vollkommen vertraut. 

Es folgten die üblichen Fragen zur Person, dann das lange Abklappern der Krankheitssymptome. In dem Moment unterbrach ich ihn und bat ihn, den mitgebrachten Bericht vorab zu lesen. Er war überrascht und lehnte es mehrmals ab, da er mir diese Fragen stellen müsse. Es war `jemand anderer´ in mir, der vollkommen gelassen und ruhig darauf beharrte, dass er sich all die Fragen und die Arbeit sparen könne. Denn in meinem Bericht stehe alles, was nötig sei.

Bisher hatte ich aufgrund meiner Biografie zu den Menschen gehört, die sich von Autoritäten einschüchtern ließen. Aber das war auf einmal wie weggeblasen und kam auch nie wieder.

Der Arzt nahm die Seiten und begann zu lesen. Er tauchte immer mehr ein in die Worte, das konnte ich an seinem Gesicht erkennen. Aber ich fühlte es auch. Als er fertig war, hatte sich sein Blick verändert. Es trafen sich zwei Seelen auf Augenhöhe. In mir gab es nicht den geringsten Hauch der Anspannung, Unsicherheit oder Angst, aber er schien sichtlich aufgewühlt zu sein. Das tat mir leid: "Sie können all das einfach wieder abschreiben, was ihre Vorgänger schon schrieben. Diese ganze Liste von Symptomen, die mit den wahren Gründen rein gar nichts zu tun haben. Falls Sie die Wahrheit nicht schreiben wollen. Es macht mir nichts aus – falls Sie Sorge haben, dass Sie mit ihren Vorgesetzten sonst Probleme bekommen. 

Aber ich kann und will einfach diese Farce nicht mehr mitspielen; diese Unwahrheiten stehen zu lassen und und mich dahinter verstecken. Was auf diesen zwei Seiten steht, ist der Grund dafür, dass ich in der Welt nicht mehr so funktionieren kann, wie man es von mir erwartet. Es ist mir egal, was andere darüber denken. So etwas kommt vor, nicht nur in Indien, auch in Deutschland." Wobei ich ihn anlachte, um ihm die Anspannung zu nehmen. "Jetzt können Sie mich alles fragen was sie wollen."

Und das tat er dann auch. Aber es waren nicht die üblichen Fragen. Während des ganzen Gesprächs hatte er den Stift beiseite gelegt, sich zurückgelehnt in seinen Bürostuhl und war meinen Worten aufmerksam gefolgt. 

 

Bei allen vorangegangenen Terminen wurde ich stets in herrischer Manier angewiesen, nur auf die gestellten Fragen zu antworten. Jeder Arzt, der bisher vor mir saß, wirkte ebenso angestaubt wie die natograue Farbe seines Büros und des Mobiliars. Er  hob die Nase nicht vom Blatt, auf dem er fortwährend herumkritzelte. Er nahm den Menschen nicht wahr, der da vor ihm saß. Man war ein Aktenzeichen, mehr nicht. Vielleicht streben nur bestimmte Charaktere diesen Posten an, vielleicht ist es auch eine Art Selbstschutz, ich weiß es nicht.

Danach folgte jedes Mal der obligatorische Depperltest, zu dem man sich bis auf die Unterwäsche ausziehen musste und unter anderem mit geschlossen Augen auf imaginäre Linien hin und herlaufen. Und vieles Seltsame mehr.  

Aber an diesem Tag saß `jemand anderer´ hinter dem Schreibtisch. Und er wirkte absolut sicher, als er sagte: „Nein, das werde ich nicht tun. Ich werde die Wahrheit schreiben. Zu untersuchen brauche ich Sie nicht, das möchte ich ihnen dann nicht zumuten.“

Vor unserer Verabschiedung erzählte er mir, dass er nur ausnahmsweise heute hier sei.  

 

***

 

Warum erzähle ich das? Weil ich meine, dass persönliche Erlebnisse wichtig sind für andere, die sich vielleicht in einer ähnlichen Lage der Unsicherheit befinden.

Auch ich fürchtete mich lange Zeit davor, was passieren würde, wenn ich ins kalte Wasser springe. Tatsächlich gab es einige Jahre der Unsicherheit, in denen mein äußeres Leben vollkommen zusammenbrach und mir alles genommen wurde, was ich liebte. Meine Alltagsperson war oft der Verzweiflung nahe und funktionierte nur noch, aber „etwas“ in mir wusste gleichzeitig: "Jetzt passiert nur das, was sein muss." Ein innerer Konflikt, zwischen dem ich lange schmerzhaft hin und her geworfen wurde.  

Aber zwei Wochen vor diesem letzten Termin trat eine Wende ein, und ich wusste, dass ich Alles loslassen und IHN und SEINE Führung bedingungslos zulassen musste. Ich hatte mich entschieden.

Zu der Zeit hatte ich von einem Sri Aurobindo oder einer supramentalen Transformation noch nichts gehört oder gelesen. Erst einige Wochen später, als die endgültige Verrentung amtlich war, hatte ich die ersten herausfordernden Erfahrungen zur körperlichen Umwandlung und wurde anschließend an seine und Mutters Werke herangeführt, in denen ich viele Fragen beantwortet fand. 

So funktioniert das normalerweise: Zuerst die Erfahrung, danach die Erklärung. Denn sonst wäre die Hingabe in der gegebenen Situation nicht vollkommen und man würde sie durch den Kontrollversuch des Mentals behindern.   

 

Manchmal muss der Herr die Dinge für uns klären, damit wir nicht weiter in die falsche Richtung laufen. Und je weniger wir IHM dabei im Weg stehen, umso weniger Komplikationen gibt es. Auch das kann ich rückblickend bestätigen.

Was nicht heißt, dass man sich nicht immer wieder von neuem darum bemühen muss, einem die Schwierigkeiten des inneren Wegs erspart würden oder man den Schmerz über den Verlust all dessen nicht fühlen würde wie jeder andere auch. Aber es baut sich in gleichem Maße eine innere Stütze auf: Wie ein Boden, der sich aus dem tiefen Abgrund unter den Füßen auftut und einen festen Schritt ermöglicht. Es ist der Fels, der den Sand ersetzt. 

Aus einer höheren Warte betrachtet ist es so, dass die Bedingungen im Außen der Arbeit im Inneren bestmöglich angepasst werden, um die nächsten Schritte der spirituellen Wandlung zu ermöglichen. Hierbei gibt es eine ganz klare Priorität, die man früher oder später akzeptiert. Denn die Herausforderungen, denen man sich fortan in seinem Inneren stellen muss, sind zu erschöpfend und erlauben kein Funktionieren in der Berufswelt mehr. Aus diesem Grund erfordern sie einen gewissen Schonraum. Umso mehr, wenn man in die schwierige Phase der körperlichen Transformation eintritt und ohnehin permanent von widergöttlicher Seite belauert wird. Die nur auf einen Fehltritt wartet, um einen vom Weg abzubringen.  

 

 

 Manchen geschieht es, dass ihnen, sobald sie sich dem Göttlichen zuwenden, jede materielle Stütze und alles, was sie lieben, entzogen wird. Hegen sie zu jemand eine Zuneigung, so verlieren sie ihn ebenfalls.

Das geschieht nicht jedermann, sondern nur denen, die berufen werden.  

 

7. April 1929, Gespräche mit der Mutter

 

 

 

  

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