Eine Meinung ist weder wahr noch falsch, sie ist nur nützlich im Leben oder unnütz; denn sie ist eine Schöpfung der Zeit, und mit der Zeit verliert sie ihre Wirksamkeit und ihren Wert. Erhebe dich über die Meinungen und suche die unvergängliche Weisheit.
Bediene dich der Meinungen im Leben, aber lasse sie nicht deine Seele in Knechtschaft binden.
Sri Aurobindo
Wir Menschen haben zu allem unsere Meinung, und die tun wir auch sehr gern kund. Jeder hat das Bedürfnis, wenigstens ab und zu gehört und wahrgenommen zu werden.
Doch mit den Meinungen, also dem, was wir für wahr und wichtig halten, ist es so eine Sache. Zuweilen ist es nicht einmal die unsere, denn wir haben sie mehr oder weniger bewusst von anderen übernommen. Meinungen bestimmen unser Miteinander und wir handeln danach. Gerade Gruppenbildungen zeigen das sehr schön.
Schaut man ganz genau hin, sind Meinungen so unterschiedlich und vielfältig wie wir Menschen selbst. Sie basieren auf unseren Glaubenssätzen und entstanden durch den Einfluss unserer Familientradition bis zurück in die Ahnenreihe, durch unsere Gene, unsere Umwelt, den Kulturkreis, in den wir hineingeboren wurden oder zu dem es uns in späteren Jahren vielleicht hinzieht, dem Maß an spiritueller Arbeit, die wir bereits geleistet haben und vielem mehr.
Meinungs-Verschiedenheiten führten zu Auseinandersetzungen bis hin zu Kriegen und unsagbarem Leid, wenn sie in Verurteilung oder Ausgrenzung Andersdenkender ausarteten. Man kann beobachten, dass sich das bis heute nicht geändert hat.
Folgt man ernsthaft einem spirituellen Pfad, stellt man fest, dass viele der bisherigen festen Überzeugungen ins Wanken geraten und manche sich vollkommen auflösen. Man ist sich nicht mehr sicher, ob sie "der Wahrheit" entsprechen, weil man erkennt, dass es nur unsere persönliche Wahrheit war. Unsere Selbstwahrnehmung, in der wir unsere kleinen Person als Zentrum des Universums erfahren und alles andere in konzentrischen Kreisen drumherum, weicht durch die Weitung unseres Bewusstseins immer mehr auf. Wir haben gelernt, uns in andere Standpunkte hineinzufühlen und können sie immer öfter als ebenso richtig nachvollziehen. Perioden der Unsicherheit können folgen, wenn all das aufgebrochen wird, was uns in dieser Welt bisher als Krücke gedient hat. Aber das ist nicht verwunderlich, wenn man das Ziel des Yogas bedenkt.
Sri Aurobindos Aphorismen dazu waren Thema einer Unterhaltung zwischen Mutter und Satprem:
Mutter: Ich habe gerade versucht herauszufinden, wieso Meinungen nützlich sind...
Sri Aurobindo sagt, sie seien "nützlich oder unnütz" – in welchem Sinne kann eine Meinung nützlich sein?
Satprem: Sie helfen vorübergehend beim Handeln.
Nein, das ist ja gerade das, was ich so bedauerlich finde: Die Leute handeln nach ihrer Meinung, und das taugt überhaupt nichts.
Vielleicht ist das alles, was sie haben!
(Lachend) Man kann also sagen, es ist lediglich ein Notbehelf.
Dauernd erhalte ich Briefe von Leuten, die irgend etwas tun oder nicht tun wollen und mir sagen: "Meine Meinung ist, dass dies stimmt und jenes nicht ..." Und immer, in neunundneunzig von hundert Fällen, ist es falsch, eine Dummheit.
Man gewinnt den sehr klaren Eindruck – jedenfalls klar sichtbar –, dass die entgegengesetzte Meinung genauso viel Wert hat und es nur eine Frage der Einstellung ist, weiter nichts. Auch spielen dabei natürlich die Vorlieben des Egos eine Rolle: Man hätte es lieber so, also ist man der Meinung, es sei so.
Aber solange man nicht das höhere Licht zum Handeln hat, muss man sich der Meinungen bedienen.
Es wäre besser, Weisheit zu besitzen als eine Meinung. Weisheit heißt ja, alle Möglichkeiten, alle Aspekte einer Frage in Betracht zu ziehen und dann zu versuchen, so unegoistisch wie möglich zu sein und zum Beispiel im Falle einer Handlung zu sehen, welche der größten Anzahl Menschen von Nutzen sein kann oder am wenigsten zerstört, welche am konstruktivsten ist. Selbst wenn man das Ganze von einem Standpunkt ansieht, der nicht spirituell, sondern nur nützlich und unegoistisch ist, wäre es besser, der Weisheit entsprechend zu handeln und nicht gemäß seiner Meinung.
Ja, aber welches wäre die rechte Art vorzugehen, wenn man nicht das Licht hat, ohne seine Meinung oder sein Ego da hineinzumischen?
Ich glaube, dies wäre, alle Seiten des Problems zu betrachten, sie so unvoreingenommen wie möglich seinem Bewusstsein zu präsentieren und zu sehen, was das beste ist (falls möglich) oder das am wenigsten Schädliche, falls die Folgen unangenehm sind.
Ich wollte sagen: Welches ist die beste Einstellung? Eine Einstellung des Eingreifens oder eine Einstellung der Duldung? Welche ist besser?... Man fragt sich.
Genau darum geht es! Um einzugreifen, muss man sicher sein, dass man recht hat; man muss sicher sein, dass die eigene Vision der Dinge derjenigen der anderen oder des anderen überlegen ist, dass sie besser oder wahrer ist. Natürlich ist es immer weiser, nicht einzugreifen – die Leute greifen ohne Sinn und Verstand ein, einfach nur, weil es ihre Gewohnheit ist, anderen ihre Meinung aufzudrängen.
Selbst wenn man die Vision der wahren Sache hat, ist es selten weise zu intervenieren. Dies ist nur gerechtfertigt, wenn jemand etwas tun will, das notwendigerweise in eine Katastrophe münden wird. Und sogar in so einem Fall (lachend) ist ein Eingreifen nicht immer wirkungsvoll.
Im Grunde dürfte man nur eingreifen, wenn man absolut sicher ist, die Vision der Wahrheit zu haben. Und nicht nur das, sondern auch die klare Vision der Konsequenzen. Um in die Handlungen eines anderen einzugreifen, muss man ein Prophet sein – ein Prophet mit einem absoluten Wohlwollen und Mitgefühl. Man braucht sogar die Vision der Konsequenzen, die das Eingreifen in das Schicksal des anderen haben wird. Die Menschen geben einander dauernd Ratschläge: "Tu dies; mach das nicht!" Sie können sich gar nicht vorstellen, in welchem Ausmaß sie Verwirrung stiften und die Verwirrung und Unordnung damit noch steigern. Manchmal schaden sie gar der normalen Entwicklung des Individuums.
Ich betrachte Meinungen immer als gefährlich, und meistens sind sie wertlos.
Man dürfte sich eigentlich nicht in die Angelegenheiten eines anderen einmischen, es sei denn, man wäre unendlich viel weiser als der andere – natürlich hält man sich immer für weiser, aber ich meine auf eine objektive Art und nicht nach seiner eigenen Meinung: Wenn man mehr und besser sieht, wenn man selber außerhalb der blinden Leidenschaften, Wünsche und Reaktionen steht. Erst dann hat man das Recht, in das Leben eines anderen einzugreifen – auch wenn er einen darum bittet. Und wenn er einen nicht darum bittet, ist dies gleichbedeutend mit einer Einmischung in etwas, das einen nichts angeht.
(Mutter geht in eine lange Kontemplation; dann öffnet sie plötzlich die Augen)
In deiner Atmosphäre habe ich gerade ein lustiges Bild gesehen – da oben. Es war wie ein sehr steiler Berghang, und jemand kletterte da hinauf, wie ein Symbol für den Menschen. Ein Wesen... Merkwürdig, ich habe das schon mehrere Male gesehen: Wesen ohne Kleider, die aber nicht nackt sind. Und ich kann nicht verstehen, warum – was soll das bedeuten? Sie tragen keine Kleidung, sind aber nicht nackt... Man sieht eine Form mit der Gestalt eines Menschen, und sie ist nicht nackt. Das ist schon das dritte Mal, dass ich dies sehe. Aber es passiert mit Menschen, die ihren Körper verlassen haben. Zum Beispiel Purani habe ich so gesehen. Er war nicht nackt und trug keine Kleider. Ich sah eine Körperform, blau und rosa (ich habe dir das schon erzählt, glaube ich). Und eben gerade sah ich einen Mann, die Gestalt eines Mannes (der dir übrigens ähnelte), der einen Hang hinaufkletterte. Er war nicht nackt und trug doch keine Kleidung... Sie haben wohl eine Art Lichtkleid. Aber es erscheint nicht wie ein strahlendes Licht oder so etwas. Es ist wie eine Art Atmosphäre, oder wie die Aura: die Aura wird sichtbar. Diese Transparenz verbirgt die Form nicht, und trotzdem ist die Form nicht nackt. Das muss wohl die Aura sein: die sichtbar gewordene Aura.
So war das jedenfalls. Und dann der Himmel – ein weiter Himmel, der sich von unten bis oben wölbt (wie ein Bild), ein sehr klarer, lichter, reiner Himmel – mit unzähligen... mit Hunderten von Dingen wie Vögeln, die auf ihn zuflogen, und er lockte sie mit einer Geste an. Die meisten waren hellblau und weiß. Von Zeit zu Zeit war eine Flügel- oder Kopfspitze etwas dunkel, aber dies war die Ausnahme... Sie kamen zu Hunderten geflogen, und er lockte sie mit einer Geste an, um sie dann auf die Erde zu schicken (er stand auf einem steilen Hang), er schickte sie hinunter ins Tal. Und dort wurden sie... (Mutter lacht) zu Meinungen. Sie wurden zu Meinungen! Es gab dunkle, helle, braune, blaue...
Wie Vögel, die so hinunter auf die Erde flogen. Aber es war ein Bild – nein, kein Bild: es bewegte sich. Sehr amüsant!
Sie kamen von oben, leuchtend, zu Hunderten. Und dann sagte er: "So entstehen also Meinungen."
Er sah dir ähnlich. Du warst es nicht direkt, aber er sah dir ähnlich.
Sie kamen vom Himmel, einem grenzenlosen, lichtvollen, klaren Himmel, der weder blau noch weiß war, weder rosa noch... einfach hell, hell. Und von diesem Himmel kamen sie... ich sagte zu Hunderten, aber es waren Tausende, die daherflogen. Er stand da und empfing sie, dann machte er eine Handbewegung und schickte sie auf die Erde, und... sie wurden zu Meinungen. Ich glaube, ich fing an zu lachen, es amüsierte mich.
Merkwürdig.
Und sie kamen alle in Scharen herab – das Tal sah man nicht.
Gut. Es kann also sein, dass die Meinungen von einem Lichthimmel stammen. (Mutter lacht)
Im Grunde sind Bilder viel ausdruckskräftiger als Worte!
Erinnerst du dich an die Zeichnung, die ich vom "Aufstieg zur Wahrheit" gemacht hatte? So war es auch hier: Da war dieser steile Fels, und dort kletterte er hinauf (mühelos übrigens). Und dann, nicht ganz oben, doch weitab von der Erde (die Erde sah man nicht mehr), empfing er all die Vögel und schickte sie nach unten. Ich sehe das Bild noch vor mir, es war schön.
Und dieses besondere Detail, das ich jetzt verstehe, ist die Aura, die sichtbar geworden war und als Kleidung diente. Verstehst du, die Aura wird zur Kleidung.
Das muss im Subtilphysischen sein, vielleicht ein wahres Physisches. Sri Aurobindo sagte einmal, das Subtilphysische sei viel wahrer als unseres. Dort sind die Dinge so, von einer sehr klaren Symbolik.
Und diese Vögel (die keine Vögel waren, aber Vögeln ähnelten) kamen in leuchtenden Formen, manchmal mit winzigen dunkleren Spuren hier und da, aber überwiegend hell. Ihre Form war sehr fließend. Es waren keine Farben, wie wir sie kennen, nicht weiß, nicht hellblau, eher wie die Essenz von Weiß und Blau, die Essenz der Farben. Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll. Sie kamen, worauf er sie losschickte, und als sie durch seine Hände auf die Erde hinunterflogen (lachend)... wurden sie braun, blau, grau... alle möglichen Farben, und dies waren Meinungen.
Lustig.
(Mutters Agenda, 14. September 1966)
Wenn du nicht mehr das Spielzeug von Meinungen sein willst, sieh zuerst, inwieweit dein Gedanke wahr ist; dann studiere, inwieweit sein Gegenteil wahr ist; und schließlich entdecke die Ursache dieser Unterschiede und den Schlüssel zu Gottes Harmonie.
Jedes Gesetz, so umfassend oder tyrannisch es auch sein mag, stößt irgendwann auf ein entgegengesetztes Gesetz, das seine Anwendung aufhalten, modifizieren, annullieren oder außer Kraft setzen kann.
Sri Aurobindo
Wenn jemand sich ganz dem Göttlichen geweiht hat, sind die Meinungen anderer für ihn von geringer Bedeutung.
Die Mutter
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