Bedeutet Hingabe, sich dem Göttlichen zu opfern?

 

 

 

 

Macht nicht erst das perfekte Zusammenspiel aller Tropfen die Schönheit des Bildes aus?

 

 

Schon immer war es problematisch und führte zu Missbrauch, Unterdrückung bis hin zu Kriegen, wenn selbsternannte menschliche Gurus oder religiöse Führer versuchten, allgemeingültige Regeln aufzustellen, wie sich der spirituelle Pfad anderer zu gestalten habe. Doch jeder Mensch nähert sich aufgrund seiner seelischen Identität auf  eigene Weise dem Göttlichen an. Wir können von außen den Seelenweg eines anderen nicht beurteilen, und Außenstehende nicht den unseren. Häufig legen wir dabei rein moralische, wertende und urteilende Maßstäbe an, auch bei uns selbst. 

Dies hängt eng damit zusammen, was wir unter Hingeben bzw. Hingabe an das Göttliche und was wir unter Opfern verstehen. Beide Begriffe tauchen in spirituellen Schriften immer wieder auf, werden gern in denselben Topf geworfen oder führen zu Missverständnissen in der Praxis. Nicht selten erfährt man in Zeiten schmerzhafter Läuterungsschübe bei beiden eine massive innere Gegenwehr, weil man ihren Sinn noch nicht auf die rechte Weise verstanden hat und meint, dadurch etwas Wertvolles aufgeben zu müssen oder (uns selbst) zu verlieren. Auch hier hat die Evolution ihre Spuren in tief sitzenden Glaubensmustern hinterlassen.

 

Als kleines Experiment kann man den Aphorismus von Sri Aurobindo eine Weile ehrlich auf sich wirken lassen und kompromisslos betrachten, was sich dabei in einem erhebt, bevor man Mutters Ausführungen liest:

 

Opfere immerzu, aber um Gottes und der Menschheit willen, nicht um des Opferns willen.

Beschränke dein Opfer nicht etwa darauf, nur irdischen Besitz hinzugeben oder einigen Wünschen und Begierden zu entsagen, sondern lass jeden Gedanken, alles Handeln und alle Freude eine Opfergabe an Gott in dir sein. Wandle im Herrn, schlafe und wache in deinem Herrn.

Und wenn du zum Schluss alle deine Gottesdienste zusammenzählst, dann wirst du herausfinden, dass dein größtes Werk in dem wenigen Guten liegt, das du versehentlich aus Liebe zu den Menschen getan hast.

 

Sri Aurobindo

 

 

 

Worte der Mutter über den Unterschied von Hingebung und Opfer im Integralen Yoga

 

"In unserem Joga ist kein Platz für Opfer. Doch kommt natürlich alles darauf an, welchen Sinn ihr dem Wort gebt. Eigentlich heißt es heiligen, dem Göttlichen etwas durch Darbringung weihen.

Aber in der heute üblichen Bedeutung ist Opfer mit Verlust verbunden, es hat etwas Negatives an sich. Diese Art Opfer ist keine Erfüllung, sondern eine Minderung, eine Selbsteinbuße. Denn es sind eure Möglichkeiten, die ihr opfert, die Verwirklichungen eurer Persönlichkeit, von der stofflichen bis zur höchsten spirituellen Ebene. Opfer beschränkt euer Wesen. Wenn ihr physisch euer Leben, euren Körper opfert, verliert ihr all eure Möglichkeiten in der stofflichen Welt; ihr gebt die Vollendung eures irdischen Daseins auf. Ebenso könnt ihr euer Leben moralisch opfern; ihr verzichtet auf den vollen Umfang und die freie Entfaltung eures inneren Wesens. In dieser Idee des Sichaufopferns ist immer etwas von Verpflichtung, von Zwang, von auferlegter Selbstverleugnung. Dies ist ein Ideal, das für die tieferen und weiteren spontanen Bewegungen der Seele keinen Raum lässt.

 

Mit Hingebung meinen wir nichts derartiges, sondern ein spontanes Sichgeben eures Ichs an das Göttliche, an ein größeres Bewusstsein, von dem ihr ein Teil seid. Hingebung mindert euch nicht, sondern mehrt euch; eure Persönlichkeit wird durch sie keineswegs beschränkt, geschwächt oder ausgelöscht, sondern gestärkt und vergrößert. Unter Hingebung verstehen wir ein freies, ganzheitliches Sichschenken mit all der Beglückung, die Schenken mit sich bringt; da ist nichts von Opfer dabei. Wenn ihr auch nur im Geringsten das Gefühl habt, ein Opfer zu bringen, so ist es nicht mehr die wahre Hingebung; das zeigt, dass ihr euch etwas vorbehaltet oder euch zwar zu geben versucht, aber widerwillig, mit Weh und Ach, und so spürt ihr die Freude des Gebens nicht; oder ihr habt womöglich gar nicht das Empfinden, euch zu geben, sondern vereinnahmt zu werden. Tut ihr irgendetwas in dem Gefühl, dass euer Wesen genötigt wird, so könnt ihr sicher sein, dass ihr es auf die falsche Art tut.

Wirkliche Hingebung weitet euch, steigert euer Vermögen; sie schenkt euch mehr, sowohl dem Wert wie auch der Menge nach, als ihr je von euch aus hättet erlangen können. Dieses größere Maß unterscheidet sich von allem, was ihr sonst bekommen hättet; ihr tretet in eine andere Welt, in eine Weite, die euch ohne eure Hingebung unerreichbar gewesen wäre. Das lässt sich mit einem Tropfen vergleichen, der ins Meer fällt; würde er seine Gesondertheit bewahren, so bliebe er eben ein Tröpfchen Wasser und sonst nichts, ein von der es umgebenden Unermesslichkeit erdrücktes Tröpfchen. Indem es aber seine Begrenzung aufgibt, wird es eins mit dem Meer und hat teil an seiner Natur, seiner Weite und seiner Macht. So verhält es sich auch mit der wahren Hingebung.

 

In diesem Vorgang ist nichts Doppelsinniges oder Ungenaues; er ist klar, stark und bestimmt. Wenn ein kleiner Menschengeist vor dem Allgeist steht und an seiner Gesondertheit festhält, so bleibt er eben, was er ist, ein winziges beschränktes Ding, unfähig, die Natur der höheren Wirklichkeit zu erkennen oder auch nur mit ihr in Berührung zu kommen. Die beiden, das Kleine und das Gewaltige, bleiben weiterhin voneinander getrennt und sowohl qualitativ als auch quantitativ völlig verschieden. Gibt sich aber der kleine Menschengeist hin, so verschmilzt er mit dem Allgeist, wird an Wert und Ausmaß eins mit ihm und verliert dabei nichts als seine Begrenzungen und Entstellungen im Austausch für dessen leuchtende Klarheit und Weite. Das kleine Dasein ändert seine Natur; es nimmt die der größeren Wahrheit an, der es sich hingibt. Widersteht der Menschengeist jedoch, dann kämpft er und lehnt sich gegen den Allgeist auf, was unausweichlich zu einem Konflikt führt, in dem das Kleine und Schwache von der Macht des Unermesslichen überwältigt wird. Gibt er sich nicht hin, so bleibt ihm nur seine Auslöschung.

Wenn ein Mensch mit dem göttlichen Geist in Berührung kommt und sich hingibt, wird er feststellen, dass sein Geist sogleich beginnt, von seinem Dunkel geläutert zu werden und an der Macht und am Wissen des Allgeistes teilzuhaben. Steht er ihm gesondert und kontaktlos gegenüber, so bleibt er, was er ist, ein Tröpfchen Wissen in der unermesslichen Weite. Lehnt er sich auf, so verliert er den Verstand; sein Denkvermögen nimmt ab und verschwindet schließlich ganz.

Das gilt nicht nur für den Geist, sondern auch für alle anderen Teile der Natur. Es ist, als wolltet ihr mit jemandem streiten, der viel stärker ist als ihr: Das trägt euch nichts ein als einen zerbrochenen Schädel. Warum gegen jemanden kämpfen, der millionenmal stärker ist als ihr? Jede Auflehnung bringt einen Rückschlag, und jedes Mal verliert man etwas von seiner Kraft. Das ist wie ein Faustkampf gegen einen weit überlegenen Gegner; man steckt Schlag auf Schlag ein und wird immer schwächer, bis man außer Gefecht gesetzt ist. Dazu braucht gar kein Wille einzugreifen, es wirkt sich von selber aus. Nichts anderes kann geschehen, wenn man sich gegen das Unermessliche auflehnt.

Solange ihr in eurem Winkel bleibt und das gewöhnliche Leben führt, passiert euch nichts; tretet ihr aber mit dem Göttlichen in Berührung, so stehen euch nur zwei Wege offen. Entweder gebt ihr euch hin und vereint euch mit ihm und wachst und verklärt euch durch eure Hingebung, oder ihr lehnt euch auf, und all eure Möglichkeiten werden zunichte, eure Verwirklichungskräfte entfernen sich von euch, um sich schließlich in dem aufzulösen, was ihr zu bekämpfen sucht.

 

Über die Hingebung sind viele falsche Ideen im Umlauf. Viele meinen, Hingebung bedeute die Abdankung der Persönlichkeit; doch das ist ein schwerer Irrtum. Tatsächlich ist es der Daseinszweck jedes Einzelnen, einen Aspekt des göttlichen Bewusstseins zu offenbaren, und der Charakter dieser Offenbarung, der Ausdruck ihrer besonderen Natur, macht die Persönlichkeit eines jeden aus. Folglich kann der Einzelne, wenn er dem Göttlichen gegenüber die richtige Haltung einnimmt, ja nur von all den Einflüssen der niederen Natur geläutert werden, die seine Persönlichkeit mindern und entstellen; diese wird ja nur umso persönlicher, wird mehr sie selbst und vollständiger. Die Wahrheit und Stärke der Persönlichkeit tritt mit umso strahlenderer Eindeutigkeit hervor; ihr Charakter ist viel genauer geprägt, als wenn sie mit der ganzen Dunkelheit und Unwissenheit, dem ganzen Schmutz und der Beimischung der niederen Natur verbunden ist. Das Endergebnis ist eine Erhöhung, Verklärung und Steigerung der Persönlichkeit, deren Möglichkeiten sich maximal verwirklichen.

 

Um aber diese Wandlung zu bewirken, muss der Einzelne erst alles aufgeben, was seine wahre Persönlichkeit durch Entstellung, Einschränkung und Verdunkelung bindet, herabwertet und beeinträchtigt; er muss alles von sich weisen, was zu den niedrigen Unwissensregungen des gewöhnlichen Menschen und seines blinden, strauchelnden Lebens gehört. Vor allen Dingen muss er seine Begierden aufgeben, denn von allen Regungen der niederen Natur ist Begierde die dunkelste und die am meisten verdunkelnde. Die Begierden stammen aus der Schwäche und dem Unwissen, und sie fesseln euch an eure Schwäche und euer Unwissen. Die Menschen haben den Eindruck, dass ihre Begierden in ihnen selbst entstehen; sie fühlen sie aus den Tiefen ihres Wesens auftauchen und nach außen springen. Aber dieser Eindruck trügt. Die Begierden sind Wellen des großen Meeres der dunklen niederen Natur und gehen von einer Person zur anderen. Die Menschen erzeugen keine Begierden in sich selbst, sondern werden von diesen Wellen überschwemmt. Wer offen und wehrlos ist, den erfassen sie und stoßen ihn endlos umher.

Der von Begierden Besessene verliert alles Unterscheidungsvermögen und wähnt, die Befriedigung seines Begehrens sei eine Unausweichlichkeit seiner Natur. In Wirklichkeit hat Begierde nichts mit der wahren Natur des Menschen zu tun. Ebenso verhält es sich mit allen niederen Impulsen wie Eifersucht, Neid, Hass und Gewalttätigkeit. Auch dies sind Regungen, die euch erfassen, Wellen, die euch überspülen und mitreißen; sie entstellen, sie gehören nicht zum eigentlichen Charakter der wahren Natur; sie sind kein wirklicher und unabdingbarer Teil von euch, sondern stammen aus dem Meer der umgebenden Dunkelheit und werden von den Kräften der niederen Natur in Bewegung gesetzt. Diese Begierden, diese Leidenschaften haben nichts Persönliches; es gibt an ihnen und in ihrem Wirken nichts, das euch eigentümlich wäre; sie bekunden sich in allen gleich.

Die dunklen Regungen des Geistes, wie Zweifel, Irrtümer und Schwierigkeiten, die die Persönlichkeit trüben und ihre Entfaltung und Erfüllung mindern, kommen aus derselben Quelle. Es sind Wellen, die daherziehen und alle packen, die sich als blinde Werkzeuge benutzen lassen. Und dennoch hält jeder an der Meinung fest, diese Regungen seien ein Teil von ihm selber und ein schätzenswertes Erzeugnis seiner freien Persönlichkeit. Man trifft sogar Leute, die sich an sie und ihre Schwäche anklammern, als wäre die das Zeichen und die Essenz von dem, was sie ihre Freiheit nennen.

 

Wenn ihr das begriffen habt, dann seid ihr imstande, den Unterschied — den großen Unterschied — zwischen Spiritualität und Moralität zu verstehen, zwei Dinge, die stets verwechselt werden. Das spirituelle Leben, das Leben des Joga, strebt nach einem Wachstum, das zur Einswerdung mit dem göttlichen Bewusstsein führt, und es bewirkt, dass das, was in jedem von uns ist, geläutert, gestärkt, verklärt und vervollkommnet wird. Es gibt uns das Vermögen, das Göttliche zu offenbaren; es hebt den Charakter jeder Persönlichkeit zu ihrem vollen Wert und bringt sie zu ihrem größtmöglichen Ausdruck. Denn dies gehört zum Göttlichen Plan.

Die Moral hingegen verfährt nach einem Gedankengebäude und stellt mit einer Anzahl Prinzipien, was gut sei und was nicht, einen Idealtyp auf, dem jeder gleichen soll. Dies moralische Vorbild ist im Einzelnen und als Ganzes und je nach Zeit und Ort verschieden.

Und dennoch behauptet es immer, einzigartig zu sein, ein kategorisches Absolutes; es lässt außer sich nichts Anderes gelten, ja nicht einmal eine Abweichung in sich selbst. Alle Menschen müssen in die Gussform eines einzigen Ideals gezwängt werden, alle einheitlich und ohne Ausnahme gleichgemacht werden. Weil die Moral ihrer Natur nach so starr und unwirklich ist, ist sie in ihrer Wirkung das grundsätzliche Gegenteil des spirituellen Lebens.

Zwar enthüllt das spirituelle Leben in allen das eine Wesen, aber ebenso auch dessen unendliche Vielfalt. Es arbeitet an der Vielfalt in der Einheit und an der Vervollkommnung in dieser Vielfalt. Die Moral errichtet ein künstliches Modell, das der Mannigfaltigkeit des Lebens und der Freiheit des Spirits widerspricht. Sie schafft etwas unveränderlich und beschränkt Mentales und verlangt von allen sich anzupassen. Alle sollen sich bemühen, dieselben Eigenschaften und dieselbe ideale Natur zu erwerben. Moral ist nicht göttlich und kommt nicht vom Göttlichen; sie ist Menschenwerk und nichts als menschlich. Sie gründet sich auf eine starre Trennung zwischen Gut und Böse; doch das ist eine willkürliche Vorstellung. Sie nimmt relative Dinge und will sie als etwas Absolutes aufzwingen; doch dies Gute und Böse ist je nach Klima, Epoche und Land verschieden. Gewisse moralische Vorstellungen besagen sogar, es gäbe gute und böse Begierden, die einen müsse man annehmen und die anderen ablehnen. Das spirituelle Leben aber heißt uns alle Begierden abweisen. Es ist sein Gesetz, alle Regungen auszuschließen, die uns vom Göttlichen entfernen können. Ihr müsst sie verwerfen, nicht weil sie an sich schlecht wären — denn sie mögen für einen anderen und in einer anderen Sphäre gut sein —, sondern weil sie zu den unwissenden und unerleuchteten Triebkräften gehören, die den Weg zum Göttlichen verstellen. Alle Begierden, gute und schlechte, gehören zu dieser Sorte; denn jegliche Begierde stammt aus einem dunklen und unwissenden Vitalen. Umgekehrt müsst ihr alle Regungen annehmen, die euch dem Göttlichen näherbringen. Ihr nehmt sie an, nicht weil sie an sich gut wären, sondern weil sie euch zum Göttlichen führen.

Nehmt daher alles an, was euch zum Göttlichen bringt, weist alles zurück, was euch von ihm entfernt. Sagt nicht, dies ist gut und jenes ist schlecht, und versucht nie, euren Gesichtspunkt anderen aufzudrängen, denn der Weg der anderen mag vom eurigen sehr verschieden sein. Was ihr schlecht nennt, kann für euren Nachbarn, der sich nicht um das göttliche Leben bemüht, sogar ganz ausgezeichnet sein.

 

Zeigen wir an einem Beispiel, wie verschieden Moral und Spiritualität die Dinge betrachten: Die gewöhnlichen moralischen Vorstellungen unterscheiden zwischen dem Freigebigen und dem Geizigen. Und in einer bestimmten Gesellschaft wird der Geizige getadelt und verachtet, während der Freigebige wegen seiner Selbstlosigkeit und allgemeinen Nützlichkeit geschätzt und seine Tugend gepriesen wird. Aber vom spirituellen Gesichtspunkt aus befinden sich beide auf derselben Stufe; die Freigebigkeit des Einen und der Geiz des Anderen sind Entstellungen einer höheren Wahrheit, einer größeren göttlichen Macht. Es gibt ein Vermögen, das in seiner göttlichen Bewegung Kräfte, Dinge und alles, was es besitzt, auf allen Ebenen, von der stofflichsten bis zur spirituellsten, frei aus sich hervorwirft, ausbreitet und verstreut. Hinter dem Freigebigen und seiner Großmut steht ein Seelentypus, der diese Bewegung ausdrückt, dies Vermögen weiter Austeilung und Verbreitung. Es gibt auch ein anderes Vermögen, das in seiner göttlichen Bewegung Kräfte, Dinge und alles, was sich besitzen lässt, von der stofflichsten Ebene bis zur höchsten, sammelt, zusammenbringt, anhäuft und aufspeichert.

Der geizig Gescholtene war dazu geschaffen, ein Werkzeug dieser letzteren Bewegung zu sein. Beide Typen sind wichtig; beide sind in der Gesamtverwirklichung notwendig; die Bewegung, die anzieht und sammelt, ist nicht weniger nützlich als jene, die ausbreitet und verteilt. Diese beiden Menschentypen, wenn sie wirklich dem Göttlichen hingegeben sind, werden Instrumente seines Werks, in gleichem Maße und von gleichem Wert. Doch solange sie sich nicht hingegeben haben, werden beide gleicherweise von Trieben der Unwissenheit bewegt; der eine wird zum Vergeuden gedrängt, der andere zum Raffen; beide lassen sich von Kräften hinreißen, die ihrem eigenen Bewusstsein dunkel sind. Keiner ist dem Anderen vorzuziehen. Vom höheren Gesichtspunkt des Joga aus könnte man dem so hochgeschätzten Freigebigen meistens sagen: „Ihre ganzen großzügigen Anwandlungen haben keinen spirituellen Wert, denn sie kommen vom Ego und von unwissender Begierde.“ Und umgekehrt findet sich manchmal unter den für geizig Gehaltenen einer, der bei der Arbeit, zu der ihn seine Natur bestimmt hat, voll ruhiger Entschlossenheit sammelt und anhäuft; ist dieser Mensch einmal erweckt, so wird er ein sehr gutes Werkzeug des Göttlichen. Doch im Allgemeinen treiben Egoismus und Begierde den Geizigen ebenso wie sein Gegenstück; es ist die andere Seite derselben Unwissenheit. Beide müssten sich läutern und wandeln, bevor sie mit dem Höheren, das hinter ihnen steht, Fühlung aufnehmen und es ihrer wahren Natur gemäß ausdrücken können.

Ebenso könnt ihr viele andere Typen nehmen und durch sie hindurch bis zur ursprünglichen Absicht der göttlichen Kraft zurücksteigen. Jeder ist die Minderung oder die Karikatur des vom Göttlichen vorgesehenen Urbilds, eine geistige oder vitale Entstellung von Dingen, die einen größeren spirituellen Wert haben. Eine falsche Regung hat die Verzerrung geschaffen. Ist diese einmal gemeistert, die richtige Haltung eingenommen, die echte Regung gefunden, so enthüllen all diese Typen gleichermaßen ihren göttlichen Wert; alle sind durch die Wahrheit in ihnen gerechtfertigt, gleich wichtig, gleich nötig, alle verschieden, aber alle unerlässlich für die göttliche Offenbarung." (Worte der Mutter, 4. August 1929)

 

 

Lass dich nicht täuschen, wenn die Menschen ihre Tugenden zur Schau stellen, noch anekeln, wenn du ihre offenen oder heimlichen Laster siehst. Das sind notwendige Nebenerscheinungen in einer langen Übergangsperiode der Menschheitsentwicklung.

 

Bemühe dich nicht um jene Tugenden, die von den Menschen gepriesen oder belohnt werden, sondern jene, die dich zur Vollkommenheit führen und die Gott von deiner Natur verlangt.

 

Sri Aurobindo

 

 

 

Man muss ehrlich sein ...

 

Wir sind ja nicht von Beginn an am Ziel angelangt. Was die Praxis der körperlichen Umwandlung betrifft, diese letzte Phase, muss man wirklich Unglaubliches ertragen, wenn auch nur phasenweise. Und da die Fähigkeit zur Hingabe sich ja erst voll entwickeln muss, darum geht es ja gerade beim Bewusstsein der Körperzellen, empfindet man das schon immer wieder als "Opfer" und hadert damit. Rückblickend betrachtet aus einer höheren Ebene, erkennt man erst die ganzen Zusammenhänge. Aber bis dahin erspart einem keiner, das aushalten zu müssen. 

Mutter merkte gegen Ende ihrer Transformation an, dass sie nicht gewusst habe, dass sie denen, die nachfolgen, das Leid nicht ersparen könne. Und dass sie nicht mehr von Transformation sprechen wolle, so sehr geriet sie dabei zeitweilig an die eigenen Grenzen.

Mentale Hingabe nützt nichts, wenn sich die heiße Lava des Agni durch den Körper wälzt und man nicht weiß, wie man sich Kühlung verschaffen kann, weil es in der Hochphase einfach keine Linderung gibt. 

Dazu kommt, dass diese Schübe grundsätzlich eine psychische Komponente haben durch das Anlösen der themennahen Schwingungsmuster aus den globalen unbewussten Bereichen. Wird man davon vereinnahmt, leidet die Psyche unsäglich. Es entspricht in etwa dem, was man in der Psychotherapie als posttraumatischen Schub versteht. In diesem Yoga durchläuft man diese Schübe jahrelang und hunderte Male auf dieselbe Weise. In diesen Momenten erkennt man keinen Zusammenhang mit einer spirituellen Transformation oder gar Vergöttlichung.

Mutter sprach vom Grauen, das die Zellen erfasst, wenn sich die göttliche Kraft in sie ergießt. Unser armer kleiner Körper verkrampft und windet sich anfänglich unter dieser Macht. Es dauert lange Zeit, bis eine gewisse Anpassung erfolgt ist. 

In den bearbeiteten Körperarealen können Schäden zurückbleiben durch die massive Beanspruchung, wie z.B. Sehnenrupturen. Es gibt Zeiten, in denen man eine verstörende Fragilität des Körpers empfindet, sich permanent die Gelenke überdehnt und keine längeren Spaziergänge mehr machen kann. Man ist irgendwann zum Rückzug in die vier Wände gezwungen und kann nur noch selten das Haus verlassen, geschweige denn ein normales Leben führen wie andere Menschen, die das nicht verstehen können. Zu allem Überfluss bekommt man von seinem Umfeld nicht selten zu hören: "Ja wenn du dich nicht bewegst, ist das doch klar!" 

Da das supramentale Wahrheitsbewusstsein, das durch einen in die Welt strömt, in den Mitmenschen im näheren Umfeld alles nach oben bringt, was nach Erlösung drängt, und das sind nicht die angenehmen menschlichen Seiten, tut man gut daran, über seinen Weg nicht zu sprechen und sich bedeckt zu halten. Und das ist nicht immer leicht. Konnte man es aus irgendeinem Grund nicht vollkommen vermeiden, muss man mit den Projektionen zurechtkommen, die sich dann auf einem entladen.

 

"Manchen geschieht es, dass sie alles verlieren, was sie lieben", merkte Mutter an anderer Stelle an. Das widerfahre nur jenen, die berufen sind.

Es kann bedeuten, dass man von der Herkunftsfamilie verstoßen und enterbt wird, seine Kinder verliert, den Beruf nicht mehr ausüben kann und zwangsverrentet wird, die finanzielle Existenz oder alles zusammen verliert, von einem disaströsen Mietverhältnis ins nächste stolpert und durch sehr herausfordernde (Übergangs-)Zeiten geht. Da Mutter und Sri Aurobindo diese Welt verlassen haben, hat man niemand, der einem genau erklärt, was da gerade passiert. Von außen betrachtet erweckt es den Eindruck, man habe sein Leben komplett an die Wand gefahren und es wird im Umfeld nicht mit guten Ratschlägen gespart, bis hin zu weniger schönen Verurteilungen. All das wird u.a. gefordert, um die totale Hingabe zu prüfen. Mit der Zeit versteht man, warum. 

 

Ich gehe davon aus, dass es eher die Regel ist, nicht mehr zu wissen, dass man diesem Weg zu irgendeiner Zeit vor Eintritt in die jetzige Inkarnation zugestimmt hat.

"Dieser Weg ist nichts für Feiglinge!", sagte Mutter. So begeistert das Ego am Anfang noch sein mag, der Enthusiasmus lässt recht bald nach, wie ein Sri Aurobindo aufgrund seiner eigenen Erfahrungen anmerkte. 

Nur sind einem Worte und "schlaue Sprüche" vollkommen egal, wenn man gerade im Loch sitzt. Manchmal ist man einfach nur furchtbar enttäuscht und wütend. 

 

Ist das alles kein Opfer ...?

 

Aber das schwächt sich in den Regenerationsphasen wieder auf ein erträgliches Maß ab und kann durch ablenkende Beschäftigung nahezu ausgeblendet werden. Wenn sich in der anstrengendsten letzten Phase auch ein permanentes latentes Unbehagen einstellt, je näher man sich dem Inneren der Körperzellen nähert.

Man registriert, dass man täglich zu den selben Uhrzeiten für ein paar Minuten heißläuft. Einige davon identifiziert man - gerade in den Abendstunden - als die üblichen Fernsehzeiten: Das Programm wechselt oder die Nachbarn begeben sich zu Bett. 

Manchmal fühlt man sich erinnert an den Kokon einer Raupe. Mutter sagte, sie fühle sich wie ein bebrütetes Ei. Es gibt Höhepunkte, in denen man sich morgens in Zeitlupe aus dem Bett schält und fragt, wie man den Weg ins Bad bewältigen soll. Die supramentale Macht ist wahrlich zermalmend. Aber eine heiße Dusche entspannt und wirkt Wunder. 

Es ist wirklich etwas erschreckend Neues, was einem da widerfährt. Man tut gut daran, sich je nach Veranlagung mit einer Beschäftigung so oft wie möglich abzulenken vom Körper.

Gern würde man sich ab und an mit jemandem darüber austauschen, aber es gibt niemanden, der das versteht oder sich anhören möchte. Man begreift schnell, was Mutter meinte, als sie sinngemäß sagte: "Stützt euch nicht auf Menschen. Diese Stütze wird ausnahmslos brechen." 

 

Wie wird es enden ...?

Man weiß NICHTS. Es ist tatsächlich ein Abenteuer.  Eines, das noch nie jemand zuvor versucht hat. Niemand ist bisher zurückgekehrt, wahrnehmbar für unsere menschlichen Sinne, und kann es uns sagen. 

Die alten Rishis haben mit der Unsterblichkeit geforscht. Wie weit waren sie wohl in dieses Mysterium vorgedrungen ...? 

 

 

 

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