"Wir errichten um uns herum die ehernen Mauern unserer unfehlbaren Gesetze, die nur die vorübergehenden Halluzinationen einer irdischen Spezies sind auf ihrem Weg hin zur Wahrheit der Erde. ...
Im Grunde genommen ist der Yoga nicht so sehr ein Weg des Lernens als des Verlernens eines großen Haufens angeblich zwingender Gewohnheiten, die als Erbe unserer Evolution aus dem Tier auf uns übergegangen sind."
Satprem
Unser Körper ist bewusst
Jeder Pianist kennt das hilfreiche Phänomen des sogenannten „Fingergedächtnisses“. So ertappt man sich dabei, dass man richtig weiterspielt, obwohl man in Gedanken kurz abschweift. Das bedeutet, dass das Zellbewusstsein der Hände den Ablauf der zu greifenden Harmonien und Tonfolgen irgendwann selbständig beherrscht. Oft verliert man sogar den Faden, sobald das (gewöhnliche) Mental sich wieder auf das Stück konzentriert. Wirkt sich seine Einmischung vielleicht sogar störend auf das bewusste Zusammenspiel des händischen Zellverbands aus?
Ein Eiskunstläufer, der zu Beginn seiner Ausbildung gerade einmal die Balance auf Schlittschuhen halten kann, wird nach Jahren des Trainings eine Kür der kompliziertesten Bewegungsabläufe abspulen. Er hat die Kür „drauf“.
Selbst wenn man annimmt, hier handelte es sich um ein Zusammenspiel von mentaler Konzentration und Muskelarbeit: Wie wird das Ganze gesteuert? Wo ist die Komplexität der unzähligen körperlichen Schritte festgeschrieben? Der Intellekt allein kann es nicht sein, denn das würde eine unglaubliche Geschwindigkeit des Denkens voraussetzen. Vielmehr sind die Bewegungsabläufe zur „Routine“ geworden und laufen ohne unsere bewusste Gedankenleistung ab. Der Körper hat gelernt und "weiß".
Wendet man das Phänomen auf all die unzähligen körperlichen Aktivitäten an, die wir unbewusst den ganzen Tag über ausführen, erkennt man, dass er über ein eigenes Bewusstsein verfügt, das unsere unmittelbare mentale Begleitung nicht unbedingt benötigt. Er hat das Wissen übernommen, das ihm aufgeprägt wurde und spult es selbstständig ab.
Viele Wissenschaftler sind inzwischen zu dem Ergebnis gekommen, dass wir unserer genetischen Veranlagung nicht hilflos ausgeliefert sind, sondern dass Organismus, Umwelt und Gene zusammenwirken. (Vgl. Lit.-Liste: „Das Gedächtnis des Körpers", "Intelligente Zellen")
Das heißt, etwas in den Körperzellen übernimmt und wendet an, was wir oder äußere Umwelteinflüsse ihm bewusst oder unbewusst diktieren. Dadurch erklärt sich u.a. die Tatsache, dass bei manchen Menschen Krankheiten ausbrechen, bei anderen nicht, obwohl sie eine übereinstimmende genetische Veranlagung aufweisen.
Sri Aurobindo führte schon vor etwa 80 Jahren aus:
„Es gibt auch ein unscheinbares Mental, ein Mental des Körpers, ja der Zellen, der Moleküle, der Partikel. Haeckel, der deutsche Materialist, sprach von einem Willen im Atom, und angesichts der unberechenbaren individuellen Schwankungen im Verhalten der Elektronen nähert sich die Naturwissenschaft in jüngster Zeit [Anm:: Heisenberg] der Erkenntnis, dass dies keine Metapher, sondern das Abbild einer geheimen Wahrheit ist. Dieses Körper-Mental besitzt eine durchaus greifbare Wirklichkeit. ...
Wenn du der Hand befiehlst, eine gerade Linie zu ziehen oder Musik zu spielen, kann und wird sie es anfangs nicht tun. Sie muss geschult, geübt, belehrt werden, und dann tut sie automatisch, was man von ihr erwartet. All dies beweist, dass es ein Körper-Bewusstsein gibt, welches die Dinge auf Befehl des Mentals tun kann, jedoch zuerst geweckt und geschult und zu einem guten und bewussten Instrument gemacht werden muss. Es kann so sehr geschult werden, dass ein mentaler Wille oder Einfluss eine Krankheit des Körpers heilen kann."
Leider hat unser Körper im Laufe der Evolution vieles in seinem Bewusstsein abgespeichert, das er zu unserem Nachteil hartnäckig wieder und wieder abspult. So stellte Mutter einige Jahrzehnte später fest:
„Das sind Welten der Suggestionen. (9.10.68) ... Die physische Substanz, dieses sehr elementare Bewusstsein in der physischen Substanz, wurde so misshandelt, dass es ihm schwer fällt zu glauben, die Dinge könnten anders sein. (3.8.63)
Die große Schwierigkeit in der Materie besteht darin, dass das materielle Bewusstsein ... unter dem Druck der Schwierigkeiten entstand – umgeben von Schwierigkeiten, Hindernissen, Leiden und Kämpfen. Es wurde sozusagen von diesen Dingen „erarbeitet“, und das verlieh ihm eine beinahe pessimistische und defätistische Prägung. (7.10.64)
Die Macht des Denkens über den Körper
"Ich schaute und sah welcher Bereich vom Denken abhängt – die Macht des Denkens über den Körper –, ungeheuer! Wir können uns gar nicht vorstellen, wie ungeheuer sie ist. Sogar ein unterbewusster Gedanke, manchmal ein unbewusster Gedanke, hat eine Wirkung, ruft unglaubliche Resultate hervor! ... Ich untersuchte das. Seit zwei Jahren studiere ich das IM DETAIL – unglaublich! Wenn ich eines Tages die Zeit habe, das alles zu erklären, wird es interessant sein ...
Winzig kleine mentale oder vitale Reaktionen, winzig klein, die für unser gewöhnliches Bewusstsein KEINERLEI Bedeutung zu haben scheinen – sie haben eine Wirkung auf die Zellen des Körpers und können eine Störung verursachen ...
Schaut man aufmerksam hin, erkennt man manchmal ein winziges Unbehagen, dreimal nichts (wenn man mit etwas anderem beschäftigt ist, merkt man es nicht), verfolgt man dann das Unbehagen, um zu sehen, erkennt man, dass es von etwas herrührte, das für unser aktives Bewusstsein unmerklich und "bedeutungslos" erscheint – das genügt bereits, um ein Unbehagen im Körper zu verursachen.
Deshalb ist das fast unmöglich zu beherrschen, ausgenommen man lebt willentlich und ständig in dem, was sie hier das Bewusstsein des Brahman nennen. Und das gibt uns auch den Eindruck, dass dem Körper manche Dinge zustoßen, die unabhängig ... nicht nur von unserem Willen, sondern auch von unserem Bewusstsein sind – doch DAS IST NICHT WAHR.
Bleibt nur all das, was uns von außen erreicht – das ist am gefährlichsten. Ständig, ständig: mit der Nahrung erwischt man ... was für eine Horde von Vibrationen! Die Vibrationen dessen, was man isst, als es noch lebte (es bleiben immer welche), die Vibrationen der Person, die es kochte, die Vibrationen von ... Die ganze Zeit, die ganze Zeit, ohne Unterlass – mit dem Atem dringt es ein. Wenn man mit jemandem spricht oder sich unter Leute begibt, dann wird man natürlich etwas bewusster, dass etwas eindringt, doch selbst wenn man sich still hinsetzt, ohne mit anderen zu tun zu haben – das kommt! Die Wechselbeziehung ist beinahe absolut, die Isolation ist eine Illusion ... Wenn man seine Atmosphäre stählt (Geste, einen Schutzwall um sich zu errichten), kann man diese Dinge TEILWEISE auf Distanz halten, doch schon die Anstrengung, sie zu entfernen, bringt disturbances [Störungen] – (ich bin dabei, auf Englisch zu denken und französisch zu sprechen!). All das habe ich jetzt jedenfalls GESEHEN.
Ich weiß aber mit absoluter Sicherheit, wenn es einem gelingt, diese ganze Masse des physischen Mentals zu beherrschen und ihr in stetiger Weise das Bewusstsein des Brahman einzuflößen, dann KANN man ... dann ist man HERR über seine Gesundheit.
Deshalb sage ich den Leuten auch (nicht weil ich hoffe, sie könnten es verwirklichen, jedenfalls nicht jetzt, aber es ist immer gut zu wissen), dass dies KEINE Fatalität ist, dass es NICHT etwas ist, das sich völlig unserer Beherrschung entzieht, dass es KEIN "Naturgesetz" ist, über das wir keinerlei Einfluss haben – das ist nicht wahr. Wir sind wirklich Herr über alles, was zur Schöpfung unserer temporären Individualität vereinigt wurde; die Macht zur Beherrschung wird uns gegeben, wenn wir sie zu benutzen wissen.
Das bedeutet eine ungeheure Disziplin, eine ungeheure Tapasya.
Es ist gut, das zu wissen, um nicht unter diesem Gefühl der Erdrückung zu leiden, das einen überkommt, wenn die Dinge sich noch völlig eurer Beherrschung entziehen, diese Art Schicksalsergebenheit der Leute: sie werden geboren, sie leben, sie sterben, und die Natur ist erdrückend und wir sind Spielzeug von etwas viel Größerem, viel Stärkerem als wir – das ist Die Lüge. (Mutter am 25.10.1960)
Wenn es also möglich ist, die Gewohnheiten unseres Zellmentals zu beeinflussen oder gar aufzuheben, können wir dann die Naturgesetze wie Schwerkraft, Elastizität der Materie oder gar den Tod überwinden? Sri Aurobindo und die Mutter haben es uns nicht nur erklärt, sondern am eigenen Leib erforscht und in die Tat umgesetzt. Die Fähigkeit dazu ist in der Zelle bereits grundgelegt.
Sri Aurobindo sagte über sich selbst: „Ich habe über Jahre hinweg Tag und Nacht die Ergebnisse meiner Forschung verifiziert, gewissenhafter, als jeder Wissenschaftler seine Theorie oder Methode auf der physischen Ebene auf die Probe stellen würde.“
Ihre zahlreichen Erfahrungen haben sie uns in umfassenden Werken, Gesprächen und Briefwechseln mit Schülern u.a. hinterlassen.
Wer die ersten Schritte wagt, sein wahres Selbst zu verwirklichen, wird sehr bald auf erhebende Weise erfahren, dass der beschriebene Weg tatsächlich existiert. Man bekommt Hilfe, freudige Bestätigung, Motivation von „unsichtbarer Seite“, als hätte unser Innerstes, das eins ist mit dem Höchsten Bewusstsein, nur darauf gewartet, dass es endlich losgeht. Der Körper signalisiert durch eindeutig körperliche Reaktionen, dass er versteht. Zugleich erhebt sich der schon angesprochene Widerstand: Einmal jener der widergöttlichen Kräfte, die diese göttlich-menschliche Ermächtigung fürchten, da es ihr Ende bedeutet. Zum anderen eben die erwähnten hartnäckigen Gesetze der irdischen Natur, in die „wir“ uns mit jeder Inkarnation hineinbegeben und denen wir uns damit freiwillig unterworfen haben. Als einst göttlicher Funke, der durch die Jahrtausende der Evolution zu einem individuellen seelischen Wesen herangereift ist.
Ist die Verbindung dieses seelischen Wesens mit der supramentalen, transformativen Kraft hergestellt, ist es nicht mehr nötig, dass unser Oberflächenbewusstsein allem zustimmt. Es wird für eine ganze Weile immer wieder revoltieren und „leiden“ und sich im Spannungsfeld dieses wechselvollen Auf und Ab vorwärts bewegen. Bis die Hingabe an das Supramentale Bewusstsein in allen Schichten des Seins gelingt: mental, vital und hinein bis ins Bewusstsein der letzten Körperzelle.
Praktische Erfahrungen
Wenn wir uns beobachten, stellen wir fest, dass wir fast jede unserer Handlungen mit Worten begleiten. Manchmal laut kommentierend, meist still im Kopf als Gedanken. Mit beharrlicher Übung bringt man diese Gedankenmühle zum Stillstand oder entkoppelt sich soweit, dass man auf eindringende Gedanken nicht mehr reagiert und sich aus der Ruhe bringen lässt. Bestenfalls weist man sie energisch zurück, wenn sie hartnäckig wiederkehren. Dann stellt man fest, dass die Handlungen weiterhin wie von selbst ablaufen. Dieser Zustand wird als leicht, weich, fließend und "rund" empfunden. Wir achten weder auf die Uhrzeit, noch beobachten wir uns selbst oder beurteilen den Fortschritt oder die Qualität unserer Arbeit. Wir befinden uns im sogenannten Flow und das Zeitgefühl geht verloren.
Meist wird uns erst hinterher bewusst, dass wir unmerklich in diesen Zustand geglitten waren. Nämlich dann, wenn wir wieder zu denken anfangen. Manchmal, wenn wir durch ein lautes Geräusch oder eine andere Person aufgeschreckt werden. Nicht selten gerät dann alles ins Stocken: Ein körperlich spürbares Unbehagen stellt sich ein. Das kann ein "Heißlaufen", ein Schmerz oder das Gefühl tausender kleiner Miniexplosionen im Kopf sein; eine plötzliche Gereiztheit, Ungeduld, Unrast, eine leichte Übelkeit, die Wahrnehmung eines plötzlichen Zeitdrucks, u.v.m. Man wird sich des Wechsels in den "alten" Zustand, in dem die meisten Menschen für gewöhnlich leben, sehr klar bewusst.
Geschieht das während einer handwerklichen Tätigkeit, fällt einem vielleicht das Werkzeug aus der Hand, man stößt sich, schneidet sich, stolpert, greift daneben, etc.
Man erfährt ganz konkret, wie das Mental (evtl. ausgelöst durch vitale Einflüsse von außen) störend einwirkt auf das Bewusstsein des Körpers, dem es für eine Weile gelang, sich vom Göttlichen Bewusstsein "tragen" und führen zu lassen. Die Arbeit wird in solch einem Zustand oft rascher und besser getan, als wenn wir uns ständig gedanklich vorausplanend einmischen.
Dasselbe gilt für Unterhaltungen. Gewöhnen wir uns an, unsere Äußerungen sachlich einzubringen und uns nicht vom Gegenüber oder unserem geltungssüchtigen Ego emotionalisieren zu lassen, werden wir nur das sagen, was nötig ist. Selbst, wenn wir aus einer Diskussion rhetorisch vielleicht nicht als Sieger hervorgehen, so haben wir doch unseren Gleichmut behalten und unsere körperliche Stabilität bewahrt, die zugleich unser Schutz ist. Mit der Zeit zieht man diesen inneren Frieden einem schalen Papyrussieg vor.
Geht es um eine Tätigkeit wie Schreiben, aber auch den bereits erwähnten verbalen Austausch, treten die richtigen Worte mühelos in unser Bewusstsein, wenn wir uns selbst "vergessen". Wollen wir jedoch bewusst voraus-denken, erfordert das einen erhöhten Kraftaufwand. Der inhaltliche Faden reißt leichter ab und der Ausdruck erfordert plötzlich Mühe. Wir wägen jedes Wort ab, bedenken, wie es auf andere wirken könnte, ob es zutreffend beschreibt, gut ankommt, und so weiter.
Nicht immer liegt es an unserem Unvermögen, dass wir aus diesem geschmeidigen Zustand des Uns-selbst-Vergessens herauskippen, wie Mutter im obigen Text über die Suggestionen schildert. Eine Schwierigkeit liegt darin, die unbeteiligte Passivität, in die wir gerne zurückkippen, in eine losgelöste Aufmerksamkeit zu verwandeln. Trotz der Ruhe und Abgabe der Führung nehmen wir an der Bewegung teil und sind als Beobachter präsent.
Zudem braucht das Bewusstsein der Körperzellen aufgrund der jahrtausendelangen Gewohnheit sehr viele Wiederholungen, bis es für immer lernt. Wir können es ihm mit unserem Verstandesmental nicht "eintrichtern" und brauchen Geduld und Vertrauen in die Göttliche Aktion. Zellgruppe für Zellgruppe wird vorsichtig bearbeitet, sonst würden wir das nicht überleben.
Was sich grundlegend verändert, ist das Zeitgefühl. Manchmal kommen uns Minuten wie Stunden vor, dann wieder sind Stunden verstrichen und wir haben es kaum wahrgenommen. Es ist der Wechsel zwischen der neuen "Aktion in der Ruhe", dem Sein im alten, herkömmlichen Bewusstsein und den "Abstiegen" während der Läuterungsschübe ins materielle Bewusstsein, was diese Unregelmäßigkeiten vermittelt.
Im Supramentalen Sein wird die Zeit keine Rolle mehr spielen.
Welche Haltung soll man einnehmen?
Auf Dauer ist die beste Haltung jene, sich selbst, das Ich, zu vergessen und sich vollkommen auf die Arbeit einzulassen, die man gerade tut. Sri Aurobindo riet dazu, jede Art von Handlung der Mutter zu weihen. Das bedeutet salopp ausgedrückt nichts anderes, als dem Göttlichen in uns bei der Arbeit zuzusehen, dabei unsere Aufmerksamkeit beizusteuern und das Wie und das Ergebnis Ihm zu überlassen. Man wird quasi zum Arbeitenden und zur Arbeit zugleich. (Worte sind wie immer unzureichend.)
Die Angst, dass wir damit den Ansprüchen anderer Menschen nicht genügen werden, ist unbegründet. Gott überblickt die Art unserer Lebensumstände und zwischenmenschlichen Vernetzungen besser als wir selbst und wird uns immer zum Wohl aller Beteiligten handeln lassen. Und selbst, wenn wir das nicht so erfahren: Wir sind auf dem Weg.
Hätte das Göttliche Bewusstsein nicht mitleidsvoll zugestimmt, sich auch in jede unserer Körperzellen zu ergießen und dieses dunkle Grab durch die lange Zeit der Evolution zu erdulden, gäbe es heute nichts, was man bereinigen, transformieren und zu einem machtvollen göttlichen Instrument erwecken könnte. Einen Körper, der jeder Bewegung des Göttlichen folgen kann und Macht über die Materie besitzen wird.
Alles würde sich ändern, wenn der Mensch erst einmal Ja sagen würde zur Spiritualität; aber die Natur seines Denkens, seines Vitalen und seines Körpers rebelliert gegen das höhere Gesetz. Er ist in seine Unvollkommenheit verliebt.
Sri Aurobindo
Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert.
Albert Einstein